Neujahr by Juli Zeh

Neujahr by Juli Zeh

Autor:Juli Zeh [Zeh, Juli]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Luchterhand Literaturverlag
veröffentlicht: 2018-09-09T22:00:00+00:00


Er steht am Rand des Lochs und starrt ins Nichts. Das Brett liegt umgekippt auf dem Beton. Die heraufsteigende Kühle fasst ihm ins Gesicht, die hochstehende Sonne verbrennt seinen Nacken. Unten liegt der Wasserspiegel glatt wie schwarzes Glas, bis auf ein gelegentliches Kräuseln, als erschauere der Berg im Inneren.

»Was ist denn los?«

Hennings Atem geht schnell, als wäre er gerannt. Ihm fällt auf, dass er etwas umklammert, öffnet die Fäuste und sieht zwei bemalte Steine, einen in jeder Hand, links Tausendfüßler, rechts Skarabäus. Im Schreck schleudert er sie von sich wie etwas Widerwärtiges. Sie stürzen ins Loch, schlagen unten ins Wasser, das Platschen klingt hohl und erzeugt einen Hall, konzentrische Kreise versetzen das Schwarz in Unruhe, nur für ein paar Augenblicke, bis die Stille wieder gewinnt.

»Spinnst du? Die haben mir viel bedeutet!«

Lisa ist herangekommen, hält instinktiv ein bisschen Abstand vom Loch und von ihm, als könnte er im nächsten Moment etwas noch Verrückteres tun.

Er will sich entschuldigen, bringt aber nur ein trockenes Krächzen hervor. Misstrauisch mustert sie ihn, und Henning macht sich klar, was sie sieht: keinen verzweifelten kleinen Jungen, sondern einen erwachsenen Mann, der übermäßig schwitzt, heftig atmet und in eine Aljibe starrt. Als er sich nähern will, hebt sie abwehrend die Hände.

»Du gehst jetzt besser.«

Sie läuft zurück zum Haus, über die Terrasse in den Saal, zieht die schwere Holztür hinter sich zu, es ist, als würde das Haus die Augen schließen.

Die Abfahrt von Femés ist wie ein Rausch. In den Serpentinen bremst Henning noch ein wenig, danach lässt er das Rad einfach laufen. Siebzig Kilometer pro Stunde, dann achtzig. Die Augen tränen im Fahrtwind, Henning sieht nichts, konzentriert sich nur darauf, das Rad gerade zu halten, nicht ins Schlingern zu kommen. Die Geschwindigkeit schluckt ihn. Ein Film läuft in rasendem Tempo rückwärts, löscht die Auffahrt, die Anstrengung, den Kampf, das wiegende Treten, Erster-Erster. Löscht Hunger und Durst und alle Gedanken. Entfernung löst sich auf, die Ebene schnurrt zusammen. Als Henning aufschaut und sich die Augen trocknet, hat er Playa Blanca erreicht. Als wäre er gar nicht richtig fort gewesen, nur kurz mit dem Rad zum Bäcker gefahren, um frische Brötchen zu holen.

Am Eingang der Feriensiedlung, in der das Scheibenhaus liegt, hält er an, einen Fuß auf den Boden gestützt. Er holt das Handy hervor und drückt eine seitliche Taste. Das Display leuchtet auf. Der Akkustand ist bei 84 Prozent. Die letzte SMS von Theresa ist zwei Tage alt: »Bitte noch Joghurt und Nutella mitbringen.«

Im Garten flattert Wäsche auf einem Ständer. Der Wind zerrt daran, schafft es aber nicht, sie abzureißen.

»Hey, wie war’s?«

Theresa kommt aus dem Haus, wird von den Kindern überholt, »Papa, Papa, wir haben eine Wasserburg gebaut«, sie werfen sich ihm entgegen, klammern sich an seine Beine, Henning breitet die Arme aus und nimmt auch Theresa zu sich, »Schöne Tour gehabt?«, murmelt sie und lacht, »Hey, nicht so fest!«, als er sie mit dem rechten Arm an sich drückt, mit dem linken hält er Bibbi und Jonas. So stehen sie für ein paar Augenblicke, verbunden zu einem achtbeinigen Tier.



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